„Was ist ein Archiv?“ – Rechtssicherheit früher und heute

Rechtssicherheit im Mittelalter: Ein Fallbeispiel vor 854 Jahren

Stiftungsurkunde des Klosters Meer
Abbildung der Urkunde, mit der Hildegundis ihre Stiftung beim Erzbischof rechtskräftig machte. Bildquelle: Das digitale Historische Archiv Köln (Signatur U 3/11).

Im Jahre 1166 trat Hildegundis von Meer, eine verwitwete adelige Dame vom Niederrhein, vor den Kölner Erzbischof Reinald, um mit ihm ein Geschäft abzuschließen. Ihre Burg, Ländereien, Rechte und Untertanen wollte sie der Kirche schenken. Dafür sollte sie in ihrer alten Burg ein Kloster gründen dürfen und dort bis zu ihrem Lebensende als Äbtissin ein standesgemäßes Leben führen können. Hildegundis‘ Motive für diesen „Deal“ mögen sehr vielfältig gewesen sein, aber nicht unwahrscheinlich ist, dass sie sich als Witwe ohne männlichen Erben – ihr ältester Sohn war verstorben, ihr zweiter hatte sich für eine kirchliche Karriere entschieden– keine großen Chancen ausrechnete, ihre Besitzungen gegen den Zugriff kleinerer und großer Adeligen der Umgebung zu schützen. Durch ihre Übereinkunft mit dem mächtigen Kölner Erzbischof stellte sie sicher, dass man sie in Ruhe ließ. Adelige, die sich an ihren Besitzungen vergriffen, konnten fest damit rechnen, dass Hildegundis sie vor dem erzbischöflichen Gericht anklagen, die ihr beurkundeten Rechte einfordern und auch Schadensersatz zugesprochen bekommen würde. Das würde sich jeder Adelige zweimal überlegen.

Die Bedeutung der Urkunde – Zeugen und Siegel

Bereits im Mittelalter war Rechtssicherheit ein hohes Gut. In Urkunden wurden Privilegien, Pflichten, Einkünfte, Regelungen zu Besitzungen und vieles mehr festgehalten. Urkunden garantierten den Rechtsparteien die Nachweisbarkeit von Rechtsgeschäften über Generationen hinweg. Nicht umsonst wurden die wichtigsten Urkunden in den Schatzkammern, zusammen mit Gold und anderen Gegenständen von Wert, aufbewahrt.

Siegel der Gräfin Mechthild von Sayn
Siegel der Gräfin Mechthild von Sayn aus dem Jahre 1248.
Bildquelle: Das digitale Historische Archiv Köln (Signatur U 1/195).

An mittelalterlichen Urkunden waren u.a. zwei Elemente von zentraler Bedeutung: die Zeugenliste und das Siegel. Die Liste der Zeugen war deshalb wichtig, weil der eigentliche Rechtsakt in mündlicher Verhandlung ablief, und die Urkunde damit schlichtweg der Dokumentation diente. Die Zeugen, die während der mündlichen Verhandlung anwesend waren, garantierten mit ihrem Namen für den Rechtsakt. Das konnten mitunter hochrangige Adelige oder Mitglieder des Klerus sein, die sich bei Hof aufhielten, aber auch unbedeutendere Ritter oder Dienstleute.
Siegel waren wichtige Beglaubigungsmittel, um die Rechtsgültigkeit der Urkunde zu unterstreichen. Das Siegel einer Urkunde stammte immer von demjenigen, der den Rechtsakt primär garantierte: in Hildegundis‘ Fall natürlich der Erzbischof von Köln. Ein Siegel der Hildegundis von Meer ist uns nicht überliefert, aber viele Adelige ihrer Zeit verwendeten Siegel aus Wachs oder Metall, um ihre Urkunden zu beglaubigen.

Zeugenliste und Siegel machten, neben anderen Elementen, aus einem beschriebenen Stück Pergament ein juristisch wirksames Dokument.

Archive werden nötig

Die schriftliche Verwaltung nahm im späten Mittelalter – also etwa ab dem 14. Jahrhundert – stark zu. Dadurch stieg auch die Zahl der Urkunden so sehr an, dass man sich etwas einfallen lassen musste. Auch in den Schatzkammern war nicht unendlich Platz. Die ersten Archive entstanden, also Räume, in denen nicht mehr alltäglich benötigtes Schriftgut aufbewahrt wurde. Dort lagerten die Urkunden zwar einigermaßen sicher, aber man benötigte doch hin und wieder Zugriff auf die dort hinterlegten Informationen – besonders im Falle eines Rechtstreits. Daher legte man so genannte Kopialbücher an. In einem Kopialbuch waren alle Urkunden des Archivs verzeichnet, nebst einer Zusammenfassung des Inhalts derselben. So konnte man schnell auf Informationen aus den Urkunden zurückgreifen und musste nicht jedes Mal mühsam ein Original aus dem Urkundenwust heraussuchen. Man darf sich viele Archive des Mittelalters nicht sonderlich ordentlich vorstellen – die Urkunden hingen mitunter in Säcken an der Decke, um sie vor Mäusefraß zu schützen. Komfortable Suchfunktion? Leider nein.

Im 15. Jahrhundert nahm das Aufkommen von Schriftgut so sehr zu, dass man neben Kopialbüchern nun auch Archivinventare anlegte, die eine weitere Systematisierung ins Archiv brachten, durch die Einführung von Nummerierungs- und Verzeichnissystemen. Diese Archivinventare enthielten nur noch sehr knappe Zusammenfassungen der Urkundeninhalte, und dienten vor allem der schnellen Auffindbarkeit.

Im 16. Jahrhundert wurden dann Archive auch von hauptamtlichen Archivaren geleitet, um die systematische Betreuung sicherzustellen. Je mehr das Aufkommen von Schriftgut anstieg, umso stärker mussten Archivare steuernd eingreifen. Es entstand der Bedarf nach Vorgaben, Regeln und Prozessen – letztlich Rechtsgrundlagen – um die gigantischen Informationsschätze zu erhalten und ständig verfügbar zu machen.

Archive in der Moderne aus wissenschaftlicher Sicht

Archive in heutiger Zeit können in privater oder öffentlicher Trägerschaft liegen. Beispiele für private Archive wären Adelsarchive oder Unternehmensarchive. Zu öffentlichen gehören etwa Staats- oder Kommunalarchive. Für beide Archivtypen gilt: sie sind kulturelle Gedächtnisse und decken den Aspekt der Rechtssicherheit für ihre Einrichtungen ab.

Aber was charakterisiert einen physischen oder digitalen Aufbewahrungsort von Unterlagen eigentlich als Archiv? Dazu der Fachmann, Dr. Manuel Hagemann (Archivar der Wasserburg Anholt):

Foto Manuel Hagemann  „Aus archivwissenschaftlicher Sicht verfügt eine Einrichtung über ein Archiv, wenn sie sich dazu entscheidet, Unterlagen – egal ob es sich um Papierakten oder digitale Daten handelt – über den Zeitpunkt der gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungsfristen oder der innerbetrieblichen Notwendigkeiten hinaus dauerhaft aufzubewahren.“
Dr. Manuel Hagemann

Ein Archiv ist also der letzte Aufbewahrungsort von Unterlagen in der Kette der vorherigen Verwendungen, und es muss den Anspruch verfolgen, dauerhaft aufzubewahren. In der Unternehmenspraxis ist dies in Zeiten der DSGVO von nicht geringer Komplexität. Wenn man die Kette rückwärts verfolgt, kommt vor der endgültigen Ablage im öffentlichen oder privaten Archiv in aller Regel eine Art „Zwischenstation“. Bei öffentlichen Einrichtungen nennt man diesen Ort traditionell Registratur. Hier landen Unterlagen, die nicht mehr für laufende Vorgänge gebraucht werden. In der Registratur verbleiben Unterlagen bis zum Ablauf ihrer gesetzlichen Aufbewahrungsfristen. Nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen entscheidet sich, ob sie ins eigentliche Archiv überwechseln, oder vernichtet werden. Über 95% der Geschäftsunterlagen von Unternehmen können nach Ablauf der Fristen vernichtet werden. Bei öffentlichen Einrichtungen müssen die zuständigen Archivare bewerten, was „archivwürdig“ ist , also von historischer oder rechtlicher Relevanz ist. Größere Unternehmen haben häufig ähnlich gelagerte Prozesse der Schriftgutverwaltung und beschäftigen auch eigene Archivare in professionell geführten Unternehmensarchiven, während kleine und mittlere Unternehmen oft aus Platz- und Kostengründen keine scharfe Trennung von Registratur und eigentlichem Archiv machen können. Die Digitalisierung stellt an öffentliche und private Einrichtungen in Bezug auf die Archivierung neue Herausforderungen – gleichzeitig eröffnet sie auch neue Wege. Während sich vieles ins Digitale verlagert, sind wir vom „papierlosen Büro“ noch weit entfernt.

Die E-Mail als Archivgut

Das Aufkommen von Schriftgut ist seit der Zeit von Hildegundis immer weiter gestiegen und hat sich mit der digitalen Kommunikation nochmal exponentiell gesteigert. Zwar legen wir wichtige Urkunden mitunter immer noch in Schatzkammern ab – z.B. Wertpapiere ins Bankschließfach. Aber die große Flut täglich aufkommender Kommunikation per E-Mail lässt sich leider nicht so archivieren, dass man sie ausdruckt und in Säcken an die Decke der Archive hängt – mal unabhängig davon, ob Mäusen unser Papier so schmecken würde, wie das Pergament der mittelalterlichen Urkunden. Für mittelalterliche Urkunden galt und für E-Mails gilt: man muss aus vielerlei Gründen später noch auf die Informationen zugreifen können. Im Falle von E-Mails hilft Unternehmen dabei nur eine revisionssichere elektronische Archivierung, mit der man die ordnungsgemäße und manipulationssichere Aufbewahrung nachweisen kann. Für kleine und mittelständische Unternehmen ist die direkte Archivierung eintreffender E-Mails über so genanntes Journaling die effizienteste Möglichkeit, diesen Teil ihrer Geschäftsunterlagen zu archivieren – einen an die Schriftgutverwaltung angelehnten Prozess mit Registratur oder anderen Zwischenstationen aufzusetzen dürfte für viele KMU kaum einen gangbaren Weg darstellen. Für öffentliche wie private Einrichtungen gleichermaßen wird es interessant sein zu sehen, welche Strategien der Langzeitarchivierung es erlauben werden, E-Mails in ihrem digitalen Ursprungszustand jenseits der Aufbewahrungsfristen dauerhaft zu sichern.

Gleichbleibende Grundprinzipien der Archivierung

Es gibt, trotz des zeitlichen Abstands, zwischen dem Mittelalter und unserem digitalen Zeitalter viele Bedürfnisse an Archivierung, die gleichgeblieben sind. Auf drei dieser Kontinuitäten möchte ich abschließend eingehen:

Rechtssicherheit

Ob Adelige, Kirchenfürsten oder heutige Unternehmer – private und öffentliche Akteure hatten und haben ein immanentes Interesse daran, die Rechtssicherheit ihrer Einkünfte, Besitzungen, Käufe, und sonstiger Rechte und Rechtsgeschäfte zu bewahren und auffindbar zu erhalten. Die Einrichtung und Professionalisierung von Archiven entsprachen diesem Bedürfnis.

Beglaubigung

Neben der Rechtssicherheit ist auch Beglaubigung ein verbindendes Element. In E-Mails verwendete qualifizierte elektronische Signaturen machen sie aus Sicht des Gesetzgebers zu Dokumenten, die vor Gericht Beweiskraft haben. Das gleiche Prinzip galt für mittelalterliche Urkundensiegel, die vor dem Gericht des Siegelausstellers belegen konnten, dass der Rechtsakt von ihm bestätigt wurde. Die Zeugenliste in einer Urkunde wiederum stellte eine Garantie Dritter dar, die dem Rechtsakt Beglaubigung verlieh und auf die man sich im Zweifel berufen konnte.

Auffindbarkeit und ständige Verfügbarkeit

Bei mittelalterlichen Urkunden behalf man sich mit Kopialbüchern oder Archivinventaren, um auf die Informationen der Urkunden einfacher zugreifen zu können. Hat man ein digitales Archiv zu verwalten, steht und fällt die Nutzbarkeit mit einer leistungsfähigen Suchfunktion, die wiederum eine gute Indexierung und systematische Erschließung voraussetzt.

Was geschah denn nun mit Hildegundis?

Hildegundis von Meer hatte übrigens Erfolg mit ihrer Klostergründung. Sie wurde noch mehrfach beim erzbischöflichen Gericht vorstellig, um sich weitere Rechtsgeschäfte beurkunden und besiegeln zu lassen. Der Name ihrer Familie lebt bis heute im Namen der Stadt Meerbusch fort. Sie persönlich hat als Identifikationsfigur und Patronin mehrerer Pfarrgemeinden bis heute eine hohe lokale Bedeutung.



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